16.10.2021
World Food Day,
Welthungertag, Welttag des Brotes,
Boss Day, Sankt-Gallen-Tag,
Süßester Tag
Anneke Kleimann und Evelyn Möcking
Anneke Kleimann und Evelyn Möcking
Kooperation mit Eiscafé Stefan da Roberto, Worringer Str. 98, Düsseldorf
Anneke Kleimann und Evelyn Möcking
Sweet Symphony im Sinn
In Einmach-Plastikbechern wurden sie angereicht. Die vorwitzig über den Rand lukenden blaurosa Marshmallow-Seile verkündeten die frohe Botschaft, die Einlösung eines Versprechens: Ist die unliebsame Arbeit getan, bekommt ihr Eure Belohnung. In ihrer Verzweifelung griff meine Mutter zu dem, was die Allgemeinheit fälschlicher,- aber verständlicherweise als zweifelhaften erpresserischen Akt auszulegen vermag, in der Pädagogik
aber als positive Verstärkung anerkannte Maßnahme gilt, dass also jeder von uns diese mit Schaumzucker gefüllten Becher bekam und unsere Mutter damit unsere extrinsische Motivation, auch in Zukunft das Kinderzimmer aufzuräumen, fütterte. Während mein Bruder den Schaumzucker verschlang, wartete ich. Zwischen Marshmallows abzählen und Marshmallows essen schob ich Zeit und verdoppelte die Belohnung. Auf Blick in meinen vollen und seinen leeren Becher genoss ich meinen Triumph, das Verlangen ausgetrickst und den Genuss aufgeschoben zu haben. Im Sieg über das eigene fleischliche Begehren, der im Neid des Bruders seine Bestätigung fand, schmeckte das Süße noch Süßer. Doch obwohl jedes Marshmallow aufgrund seiner industriellen Herstellung gleich sein musste, drängte sich mit dem Verspeisen eines jeden gedrehten Seils ein stärker werdender bitterer Nachgeschmack auf. Den finalen leeren Becher in der Hand schämte ich mich meiner Gemeinheit. Die in der Geschwisterkonkurrenz anfänglich genossene Überlegenheit über die Gier meines Bruders löste sich auf wie der Schaumzucker auf der Zunge.
Wie sehr hätten wir uns da ein Supersize-Marshmallow-Seil gewünscht, eine Süßigkeit ohne erkennbares Ende, Genuss ohne Gewissen. Attraktiv in der Imagination - doch realisiert ergreift uns die Spur eines Schauers. Etwas in uns widerstrebt der Lust, angesichts des Übergroßen. Es ist, als könne die vollmundige Süße nur in seiner Begrenztheit existieren. Dabei können wir gar nicht anders, als uns hingezogen fühlen. Die Droge Zucker, evolutionär bestimmt, Zucker als schneller Energielieferant. Alles was süß ist, ist nicht giftig. Dulcedo – so wurde in der mittelalterlichen Theologie das Erleben des Göttlichen bezeichnet. Meine Schaumzuckererfahrung ist mehr die von
Scham und kindlicher Bosheit als dulcedo, auch Jahre später noch, tropfend über dem Lagerfeuer, wollten Marshmallows nie nur süß sein.
Jeden Abend ein großer Spaß. Auf meine Frage hin, wie es ist, bei Sannyasins aufzuwachsen, sagt er lächelnd, meine Eltern haben Freunde zum Essen eingeladen und am Ende haben sich alle gegenseitig mit Avocados beworfen. Meine Augenlider zucken. Die Vorstellung einer Gruppe von Erwachsenen, die sich mit der damals seltenen Frucht in den Haaren haben, erzeugt in mir ein befremdliches Gefühl. Nicht mit Essen panschen!, die Ermahnung meiner Eltern hallt unvermittelt in mir nach. Vor 35 Jahren fehlte dem Nachhaltigkeitsgedanken die Omnipräsenz von heute,
doch mit Lebensmitteln sorgsam umzugehen, galt als ein unumstößlicher Wert. Rote Beete an weißen Wänden und Tomatenflecken am Kragen deute ich folglich als Beweise einer unfreiwilligen Ungeschicklichkeit. Im Haushalt meines Freundes waren es Spuren auf der Suche nach dem inneren Kind. Der Wunsch, sich dem elterlichen Verbot zu widersetzen, den spüre ich jetzt auch, die Lust, ohne moralische Last die Avocado zu werfen, möchte sich jedoch bei größter Bemühung um Hemmungslosigkeit nicht recht einstellen, selbst im Wissen um einen gesteigerten Genuss im Tabubruch. Den Saft der Pflaume zu extrahieren oder eine Traube zu sezieren gehört nicht der Praxis der Sannyasis an, der Weg zur Erleuchtung verläuft anders. Dennoch wohnt dem Experimentieren mit Obst und Gemüse eine Verspieltheit inne, das im Try-und-Error-Verfahren zu Erkenntnissen führt, im Labor, das kein Labor, sondern Atelier ist. Das Sinnliche offenbart sich nicht nur dem Gaumen, auch dem Geist, in der Freude auf die Überraschung und
der Erwartung des Unerwarteten.
Die Arbeiten der Künstlerinnen Anneke Kleimann und Evelyn Möcking ent- und bestehen aus Nahrungsmitteln. Beide verwenden Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Zucker und Gelatine als Materialien für ihre künstlerische Produktion. Damit stehen die Arbeiten im direkten Bezug zu den Aktionstagen vom 16.10.2021, dem World Food Day, Welthungertag, Boss Day, Welttag des Brotes, Sankt-Gallen-Tag und Süßestem Tag, dem Eröffnungstag der Ausstellung „Chemical Memories“ im Rahmen von PALACE Projekte. Gleichzeitig erweitern die Arbeiten die Aktionstage um ihre spezifische künstlerische Perspektive, betonen den Überfluss an Lebensmitteln, die künstliche Herstellung dieser in der westlichen Gesellschaft, aber auch deren ästhetische Qualität.
„Chemical Memories“ spricht die Sinne an, weckt Erinnerungen und betont die Ästhetik der Materialien und deren skulpturalen Wert: Kleimanns pastellfarbene Skulpturen aus selbst hergestelltem Schaumzucker stehen Möckings Glasobjekten gegenüber, die mit extrahierten Frucht- und Gemüsesubstraten sowie Lebensmittelfarben und Slush-Sirup gefüllt sind.
Evelyn Möcking gewinnt die Farben dieser Flüssigkeiten durch das Einlegen pflanzlicher Produkte wie Algen, Stachelbeeren, Holunderbeeren und Kirschen in Ethanol. Seit über 3 Jahren legt Möcking jenes Farbarchiv an, das sich seitdem in einem stetigen Prozess befindet: Die biologischen Farben verändern sich je nach Eigenschaft und Lichtintensität. Das Spiel mit der Biofarbwelt ist experimentierfreudig, aber auch frustrierend: Mal ergeben sich Verläufe, bilden sich Kontraste, trifft Farbe auf Farbe und beide bleiben, wie sie sind. Dann ist das Experiment gelungen. Mal mischen sich die Farben, dann muss von Neuem begonnen werden. Die Künstlichen widersetzen sich diesem Spiel und können als Sirup nur als Basis oder als oberste Flüssigkeit dienen: Sie sind damit erste und letzte Instanz. Hinter Glas zeigt sich dann: Die Natürlichen verändern sich, je nach Zeit und Lichtintensität, die Künstlichen bleiben, wie sie sind: Prozess und Verfall – dem Leben so nah – gegen Konstanz und Haltbarkeit. Die Farben präsentiert Möcking in modifizierten Laborgläsern und betont damit die Nähe zwischen Kunst und Wissenschaft. Ein Kaleidoskop eingefasst in einem ästhetischen Versuchsaufbau.
Während Möcking mit Hilfe von Präparationsmethoden und Experimenten Werke schafft, die sich in ihrer äußeren Erscheinung vom eigentlichen Material entfernen, lotet Kleimann die skulpturalen Potenziale von Schaumzucker aus: Sie gießt den selbst zubereiteten, essbaren und flüssigen Marshmallow in große Negativformen und bildet typische Formen nach, wie das gedrehte Marshmallow-Seil oder die Zuckerkette.
In langen Trocknungsphasen härten die Zuckermassen aus und konservieren sich aufgrund des hohen Zuckergehaltes. Der Ursprung des Marshmallows liegt im Europa des 11. Jahrhunderts. Damals entstand die Süßigkeit mitunter aus einem Malvengewächs, das als Heilpflanze diente.
Heutzutage ist uns die Süßigkeit vor allem durch ihre besondere Beliebtheit in den USA bekannt. Dort werden die süßen Batzen über dem Feuer gegrillt, in Kakao getaucht oder Aufstriche kreiert. Fluffy, rosa und leicht verdaulich wirken sie auch wie Symbole für den amerikanischen
Supersize-Wahn und Konsum-Fetisch.
Die Skulpturen von Kleimann und Möcking verführen mit fleischiger Farbenpracht und supersüßer Masse, betonen Sinnlichkeit und Genuss und lassen unübersehbar die Sünde neben die Wissenschaft treten.
Während der gesamten Ausstellungszeit werden bedruckte Zuckertütchen
in dem Eiscafé Stefan da Roberto ausliegen. Wir freuen uns über die Kooperation und bedanken uns herzlich!
Die Arbeiten von Evelyn Möcking wurden in Zusammenarbeit mit der reSchmiede Düsseldorf realisiert. Ein herzliches Dank dafür!
Text: Christina Möcking
Plakat: Max Kostopoulos
3D-Renderings: Daniel Nehring
Trailer: Evelyn Möcking
Fotos: Christian Ahlborn
PALACE Projekte werden gefördert vom Kulturamt Düsseldorf und
Stiftung Kunstfonds/Neustart Kultur.